Kanon der Bildenden Kunst und erste Konstruktionssysteme

Woher kommen die Regeln der Schnittkonstruktion? Wie und wann sind sie entstanden?

Mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Industrialisierung wurden in vielen Bereichen erstmals systematisch Daten des menschlichen Körpers erhoben, auch für eine industrielle Fertigung von Kleidung. So wurden zahlreiche moderne Anatomiebücher veröffentlicht, die eine entsprechende Datenbasis für die Verwendung in Kunst, Handwerk und Medizin lieferten. Als Anatomiebücher setzten sie sich auch mit der Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst, und somit auch mit dem Kanon der Bildenden Kunst auseinander. Es handelt sich um den Versuch, aus einem einzigen Maß, wie beispielsweise der Kopflänge, der Handlänge oder der Körpergröße, einen Konstruktionsplan für die gesamte Darstellung des Körpers abzuleiten.

Den wohl populärsten Kanon stellt sicherlich der Vitruvianische Mensch dar, den Leonardo da Vinci 1490 nach den Aufzeichnungen des römischen Architekten Vitruvius (1. Jahrhundert v. Chr.) entwickelte.

Zeising und der Goldene Schnitt

Beginnen wir unsere Spurensuche mit dem 1854 veröffentlichten Werk Proportionen des menschlichen Körpers, von Adolf Zeising, der seine Variante des Kanons aus dem Goldenen Schnitt ableitet (Skala rechter Bildrand). Mit dem Goldenen Schnitt wird eine Jahrtausende alte Idealproportion aus Architektur und Kunst bezeichnet. Zeising hatte diese geheimnisvolle „göttliche Proportion“ wiederentdeckt.

1854 war das also eigentlich nichts Neues, denn bereits die alten Ägypter verwendeten einen eigenen Kanon zur Gestaltung ihrer monumentalen Reliefs. Der griechische Bildhauer Polyklet verfasste im 5. Jahrhundert v. Chr. eine theoretische Schrift, Kanon des Polyklet, in der er die idealen Maßverhältnisse des menschlichen Körpers beschrieb. Schon hier wurde das Prinzip der stetigen Teilung verwendet, das später auch Goldener Schnitt genannt wurde.

Seitdem waren viele berühmte Künstler, u.a. Albrecht Dürer, Leonardo da Vinci, im 19. Jahrhundert Johann Gottfried Schadow, sowie im 20. Jahrhundert Gottfried Bammes, fasziniert von der Idee des Kanons und entwickelten eigene Konzepte.

Carl Schmidt’s Proportionsschlüssel

Zeising vergleicht in dem Kapitel „Historischer Überblick über die bisherigen Systeme“ zahlreiche historische Ansätze und stellt auch den des „Historienmalers“ Carl Schmidt vor.

Schmidts 1849 erschienene Schrift Proportionschlüssel – Neues System der Verhältnisse des menschlichen Körpers überzeugt aufgrund seiner Einfachheit und Präzision und bildet einige Jahrzehnte später eine gute Basis für erste Konstruktionssysteme.

Wichtig: Bei Büchern, die während der deutschen Kolonialzeit ab 1880 veröffentlicht wurden, kann es vorkommen, dass man geschichtlich überholten Vorstellungen von unterschiedlichen „menschlichen Rassen“ begegnet. Die Lektüre kann daher nur bedingt empfohlen werden.

Fritschs Modifikation von Schmidts Kanon

Die Gestalt des Menschen von Gustav Fritsch, 1899, ist ein Anatomiebuch für „Künstler und Anthropologen“ (siehe Anthropologie).

Fritsch ist Anatom, Anthropologe und Physiologe. Das Werk verwendet erstmals Fotografie als Mittel der Darstellung des Kanons. Fritsch favorisiert Carl Schmidts Kanon von 1849 und entwickelt das System noch weiter. Fritschs Anatomiebuch verwendet umfangreiche Tabellen mit Körpermaßen von Erwachsenen und Kindern als Beleg. Auch mit dem Goldenen Schnitt setzt sich Fritsch auseinander, steht dem Prinzip letztlich aber skeptisch gegenüber.

Eine genaue Konstruktionsanleitung zu Fritsch’s Kanon finden wir in H.C. Stratz’s Naturgeschichte des Menschen.

C.H. Stratz

Während der Kanon einen Überblick über die körperlichen Proportionen und Gelenkpositionen gibt, machen Anatomiedarstellungen den Körper für die Darstellung des Skeletts transparent, (C.H.Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers, 1898).

Dr. August Frorieps Kanon

Frorieps Kanon des „Erwachsenen Weibes“ aus Anatomie für Künstler, 1899

Paul Richers Kanon

Paul Richers Kanon aus seiner Nouvelle Anatomie Artistique, La Femme, 1920

Anwendung des Kanons auf die Schnittkonstruktion

Ein Beispiel für die Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Handwerk ist das 1899 veröffentlichte Handbuch der angewandten Anatomie von Dr. Ludwig Pfeiffer. Das über 500 Seiten starke Werk beinhaltet eine fundierte Darstellung der Anatomie von Mensch und Tier, entwickelt eine Messtechnik für das Schneiderhandwerk und schafft so die Voraussetzungen für die Konstruktion von Kleidung.

Das Handbuch der gesamten Herrengarderobe, Amtstrachten und Berufsbekleidung, 1. Auflage 1905, herausgegeben von der Zuschneider-Vereinigung von Rheinland und Westfalen, stellt schon ein modernes Konstruktionssystem dar und enthält ein Anatomiekapitel nach L. Pfeiffer. Die folgende Doppelseite aus diesem Handbuch zeigt Pfeiffers 7,5 Kopflängen-Kanon als prozentuale Darstellung. Anmerkung: Die 3% „Zugaben für die Wölbungen des Körpers“ und ihre Verwendung im Schnitt sind mode- und modellabhängig. Der Hinweis auf die Zugaben in der Darstellung des Kanons hat leider oft zu Missverständnissen geführt.

Wirbelpunkt und Halslochlage

Der Halswirbelpunkt spielt beim Maßnehmen und in der Konstruktion eine wichtige Rolle, denn er stellt den Ausgangspunkt vieler Messstrecken dar. Die Verwendung des Wirbelpunktes ist nicht in allen Konstruktionssystemen gut gelungen. Die oben erwähnten Zugaben führten zu Unsicherheiten bei der Bestimmung der korrekten Lage der Taillenlinie und dem Abstimmen der Konstruktionsmaße zueinander.

Ein Versuch Klarheit zu schaffen: In der Darstellung nach Pfeiffer liegt der Wirbelpunkt bei 15% und die Taillenlinie bei 38% der Körpergröße. Die Strecke vom Wirbelpunkt bis zur Taillenlinie beträgt demnach 23% der Körpergröße. Bei der DOB-Standard-Körpergröße von 168 cm ergibt das 38,6 cm.

Wird die Rückenmitte bei der Konstruktion noch schräg gestellt oder als Kurvenverlauf gezeichnet, kommt man leicht auf 39,0 cm. Bezogen auf körpernahe Formen bei Kleidern und Jacken, deckt sich dieses Ergebnis mit meiner Erfahrung als Modellmacher. Auf diese Weise sollte das Rückteil-Halsloch recht genau am 7. Halswirbel entlang verlaufen. Zugaben in der Länge werden dann gebraucht, wenn z.B. Taillenweite in Falten gelegt oder eingekräuselt wird. Die ideale Armlochtiefe und Schulterlage sind modellabhängige Aspekte und ändern sich mit der Mode.

Die genaue Position des 7. Halswirbels findet sich in der Schädeldarstellung nach Dr. A. Froriep, Anatomie für Künstler, 1899.

SHAPE und Edith’s Kanon

Auch das 3D-System SHAPE verwendet einen Kanon. Die Abbildung zeigt 3D-Avatar Edith in Größe 36. Es ist ein moderner 8-Kopf-Kanon, dem 3D-Bodyscans zugrunde liegen. Viele Erkenntnisse aus den hier besprochenen Künstlerkonzepten wurden ebenfalls berücksichtigt, insbesondere Gottfried Bammes Werk Die Gestalt des Menschen.

Der 3D-Avatar ist in den Größen von 32 bis 48 gradiert. SHAPE erlaubt zudem die individuelle Gestaltung des Avatars, z.B. nach Fotos und 3D-Scans.

Konstruktionssysteme im industriellen Prozess

In Deutschland setzte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts das System M.Müller & Sohn durch. Das Lehrbuch Der Zuschnitt für die Damenschneiderei, 16. Auflage, habe ich über lange Zeit immer wieder gern benutzt.

Besonders interessant finde ich die Abbildungen mit Vergleichen von plangelegter Büstenabwicklung und konstruiertem Schnitt (ab S.69). Sie sind ein wichtiger Hinweis darauf, dass die ersten Konstruktionssysteme ihre Kenntnisse über Schnittgeometrie aus plangelegten Körperabformungen (z.B. Drapierung) ableiteten. Diese bildete dann die Voraussetzung, eine sehr ähnliche Schnittgeometrie auf dem Wege der Konstruktion zu entwickeln. So entstandene Konstruktionsanleitungen sollten Schneider*innen und Schnittdirectricen ermöglichen, gute Passformen für alle Figurtypen zu gestalten.

Im Laufe der Zeit wurden jedoch Schwachstellen der Konstruktionskonzepte sichtbar. Die Konstruktionsformeln wirken starr und intransparent und stehen einer flexiblen Modellgestaltung im Weg. Es gibt auch konstruktionsbedingte Passformmängel, die sich kaum beseitigen lassen. Das trifft insbesondere auf Hosen zu. Catface, Schrägzüge in der Hinterhose und übermäßig runde Seitennähte sind typische Phänomene, die nicht mit schlecht ausgeführter Konstruktion erklärt werden können. Konstruierte Schnitte bedingen immer eine oder mehrere Anproben, bzw. Korrekturen. Das verursacht die langen Entwicklungsintervalle im industriellen Prozess.

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